O. Kis’ (Hg.): Ukrajins’ki žinky u hornyli modernizaciji [Ukrainische Frauen in der Feuerprobe der Modernisierung]

Titel
Ukrajins’ki žinky u hornyli modernizaciji [Ukrainische Frauen in der Feuerprobe der Modernisierung].


Herausgeber
Kis’, Oksana
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
105 grn
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Rohde, Historisches Institut, Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Prag

Der vorliegende Sammelband ist von der Ukrajins’ka asociacija doslidnykiv žinočoji istoriji (Ukrainische Vereinigung zur Erforschung der Frauengeschichte) unter der Redaktion ihrer Präsidentin Oksana Kis’ herausgegeben worden. Die Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Ukraine ist in den vergangenen beiden Dekaden höchst produktiv gewesen. Das ist auf den 2010 gegründeten Verein, seine Mitglieder und nicht zuletzt die L’viver Historikerin Kis’ zurückzuführen.1 Mit dem vorliegenden Werk hat sie sich das Ziel gesetzt, eine Synthese zur Geschichte ukrainischer Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorzulegen.

Zu den thematischen Schwerpunkten des Bandes gehören Frauenbilder in den ukrainischen Gesellschaften, Emanzipationsprogrammatiken (insbesondere im Bildungswesen und in der Politik), Frauen- und Geschlechterpolitiken sowie Frauen im Krieg und als Objekt von Gewaltgeschichten. Methodisch bedienen sich die Beiträge etwa alltags- und politikgeschichtlicher Herangehensweisen, vertreten die klassische Frauengeschichte oder neuere gender studies. Die Herausforderung einer Zusammenschau zur Geschichte ukrainischer Frauen, so wie bei jedem derartigen Projekt zur ukrainischen Geschichte in diesem Zeitraum, liegt in der Heterogenität ukrainischer Geschichtsregionen.2 Insgesamt sind die Beiträge bemüht, eine Balance zwischen den ukrainischen Ländern herzustellen und damit eine vergleichende Perspektive zu ermöglichen. Sicherlich ist vor allem deren Vielfalt geschuldet, dass etwa die Zakarpats’ka Oblast‘ (historisch: ruthenische Gebiete Ungarns, Podkarpatská Rus) und die Černivec’ka Oblast‘ (historisch: Nordbukowina, Kreis Cernăuți) nicht berücksichtigt werden konnten und die (ehemals) habsburgischen ukrainischen Länder somit nur durch Galizien vertreten sind.

Charakteristisch für die Situationen der ukrainischen Länder im fraglichen Zeitraum sind die verschiedenen Kontexte der Fremdherrschaft, die die jeweiligen regionalen Lebensumstände prägten.3 Kis’ eröffnet den Band mit einem Beitrag zu Ehen in ukrainischen Bauernfamilien um 1900, in dem sie den Rechtsstatus von Frauen in den jeweiligen Imperien sinnvoll mit ukrainischen Gebräuchen und lokalem Gewohnheitsrecht kontrastiert. Dabei gelingt ihr, aufzuzeigen, unter welchen Umständen Frauen zu Familienoberhäuptern avancieren konnten, aber auch welche Grenzen der rechtlichen Emanzipation gesetzt waren. Insgesamt lässt sich aber nicht immer einordnen, wie repräsentativ etwa genutzte Quellen aus dem Bereich der Folklore sind. Ivanna Čerchovyč verfolgt ebenfalls einen gender-historisch geprägten Zugang, indem sie die Konstruktion und Persistenz weiblicher Rollenbilder im habsburgischen Galizien um 1900 problematisiert. Hierbei verdeutlicht sie die Intersektionalität, die die Emanzipation junger Frauen – als Angehörige konservativer griechisch-katholischer Familien auf der einen Seite und als Ukrainerinnen in einer national zunehmend konfligierenden Gesellschaft im Kronland auf der anderen Seite – zunehmend erschwerte. Sie stellt höhere Bildung für Frauen – ebenso wie Kateryna Kobčenko in ihrem Beitrag zum Russländischen Reich – als zentrales Vehikel hierfür heraus.

Wie auch in anderen europäischen Staaten und Nationsbildungsprojekten stellte der Erste Weltkrieg nicht nur eine besondere Herausforderung für Frauen dar, sondern erlaubte auch die Herausbildung spezifischer Emanzipationsstrategien. (S. 78–105) Gleichzeitig verwandelten beide Weltkriege die ukrainischen Länder in ein Schlachtfeld und zeichneten die ukrainische Landkarte neu. Insbesondere die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik schickte sich an, die Lebenssituation der Frauen radikal zu verändern. Maryna Voronina legt zwei Beiträge zu Frauen in der Sowjetukraine vor: zum „Emanzipationsexperiment“ der 1920er-Jahre und zur Geschlechterpolitik der 1930er-Jahre. Dabei gelingt ihr die Dekonstruktion sowjetischer Emanzipationsmythen. So waren etwa sowjetische Frauenbewegungen nur in denjenigen Regionen stark, in denen sie auf Bewegungen der Vorkriegszeit aufbauten (S. 129). Die Effektivität der 1920 eingeführten ženviddily (Frauenabteilungen) als Teil der regionalen Parteistrukturen hing von den jeweiligen Beziehungen zur Parteiführung ab, bis sie 1930 abgeschafft wurden. Stattdessen sollte ein gewisser Frauenanteil in der Partei erreicht werden, entsprechende Quoten bestanden allerdings nur auf dem Papier (S. 118). In der Industrialisierung der 1930er-Jahre galten Frauen der Politik als bedeutende Ressource, die (mit erheblichem Propagandaaufwand) mobilisiert werden sollte. Das Paradoxon der Geschlechterpolitik und ihres Ideals der „neuen“ und schwer arbeitenden sowjetischen Frau bestand jedoch darin, dass „[w]eder die Partei noch die Frauenabteilungen und Schulen den Männern beibrachten, die häuslichen Pflichten geschlechtergerecht zu teilen.“ (S. 154) Hier zeigt sich das ukrainische Beispiel als kongruent mit der gesamtsowjetischen Geschichte.

Auch die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachten spezifisch weibliche Geschichten hervor, wie etwa Oksana Kis’ anhand von Erinnerungen an die menschengemachte Hungerkatastrophe der Jahre 1932–1933, den Holodomor, zeigt. Nach dem Verlust ihrer Männer waren Frauen oft allein für die Versorgung von Kindern und älteren Familienmitgliedern verantwortlich; teils war dies durch wechselseitige Hilfe unter Frauen möglich, teils endeten Leben jedoch auch tragisch. Olena Stjažkina betrachtet den Alltag von Frauen in den Okkupationsregimen des Zweiten Weltkriegs und arbeitet dabei Überlebensstrategien heraus. Sie zeigt auf, dass Mechanismen wie „das Umschreiben der [eigenen, M.R.] Biografie, demonstrative Armut, Routine im Umgang mit der Bürokratie, die Bildung von Informationsnetzwerken“ (S. 260) schon seit den späten 1920er-Jahren erprobt worden seien. Insbesondere während des Holodomor hätten sich Frauen geschlechterspezifische Strategien angeeignet, darunter Tauschpraktiken, wechselseitige Hilfe oder die „Nutzung der körperlichen Ressource“ (S. 260). Den weiblichen Körper in Extremsituationen thematisiert auch Marta Havryško in ihrem Beitrag zu Ukrainerinnen im nationalistischen Untergrund.

Die Beiträge verbinden thematische Übersichten mit zahlreichen biographischen Beispielen, die den Texten historische Tiefe und gleichsam angenehme Lesbarkeit verleihen. Das Werk präsentiert sich als zugängliche Übersicht, verzichtet deshalb aber nicht nur auf theoretische Vertiefungen, sondern auch einen wissenschaftlichen Apparat. Die akademische Leserschaft profitiert von passend ausgewählten Lektüreempfehlungen am Ende jedes Beitrages. Gerade denjenigen Beiträgen, die intensiv mit Ego-Dokumenten und Zeitzeugeninterviews arbeiten4, wäre der Raum für methodische Einordnungen und Fußnoten zu wünschen gewesen, ihrer Qualität tut das jedoch keinen Abbruch.

Dem Band fehlt eine Einleitung, die den übergeordneten Titel ausführlicher diskutieren, die Beiträge zusammenführen und die ukrainische Frauengeschichte historiographisch im nationalen aber auch ost- und ostmitteleuropäischen Kontext hätte kontextualisieren können. Gerade für die 2022 aufgekeimten Debatten um eine Dekolonisierung der osteuropäischen Geschichte wäre nicht nur die in diesem Band vernachlässigte Frage nach transnationalen Verbindungen ukrainischer Frauen, sondern auch der Einfluss etwa polnischer oder sowjetisch-russischer Geschichtsschreibung auf die ukrainische Frauengeschichte und ihre internationale Wahrnehmung zentral. Der vorliegende Band stellt aber definitiv einen sinnvollen Ausgangspunkt für solche Diskussionen dar. Denn er zeigt schlüssig, dass und wie sich ukrainische Frauen in heterogenen Unterdrückungssituationen agency erarbeiten konnten. Als Zusammenschau der äußerst heterogenen ukrainischen Frauengeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei der Band interessierten Leser:innen, auch ohne einschlägige Expertise im Bereich der Geschlechtergeschichte, dringend empfohlen.

Mittlerweile sind einige Monografien der Autorinnen aus dem thematischen Umfeld ihrer Beiträge erschienen, auf deren Rezeption im deutschsprachigen Raum zu hoffen ist.5 Einige der vorliegenden Beiträge des Bandes regen in besonderem Maße dazu an, über heutige Kriegserfahrungen ukrainischer Frauen zu reflektieren, etwa zu Überlebensstrategien oder – so wie jüngst Marta Havryško – über sexualisierte Gewalt im Krieg und daraus resultierende Traumata.6

Anmerkungen:
1 Die Namen der Autorinnen sind konsequent in der wissenschaftlichen Transliteration aus dem Ukrainischen angegeben. Im internationalen Kontext ist auf abweichende Schreibweisen zu verweisen, bspw.: Marta Havryshko, Oksana Kis, Kateryna Kobchenko, Olena Stiazhkina. https://www.womenhistory.org.ua/index.php (20.11.2022); beispielhaft: Helinada Hrinčenko / Kateryna Kobčenko / Oksana Kis’ (Hrsg.), Žinky central’noji ta schidnoji Jevropy u druhij svitovij vijni. Henderna specyfika dosvidu v časy ekstremal’noho nasyl’stva, Kyjiv 2015.
2 Kerstin S. Jobst, Geschichte der Ukraine, 2., überarb. Aufl. Stuttgart 2015 (1. Aufl. 2010), S. 55–57.
3 Serhii Plokhy, The Gates of Europe. A History of Ukraine, New York 2015.
4 So der Beitrag von Marta Havryško zu Frauen im ukrainischen nationalistischen Untergrund sowie der von Kis’ zu Frauen in den Lagern des GULag.
5 Marjana Bajdak, Vijna jak vyklyk i možlyvist’: ukrajinky v roky Pershoji svitovoji vijny. L’viv 2021; Oksana Kis’, Žinka v tradycijnij ukrajins’kij kul’turi (druha polvyna XIX – počatok XX st.), L’viv 2008; Oksana Kis, Survival as Victory. Ukrainian Women in the Gulag, Cambridge, MA 2020 [ukr. Ausgabe: 2017]; Olena Stjažkina, Styhma okupaciji. Radjans’ki žinky u samobačenni 1940-ch rokach, Kyjiv 2019.
6 Čomu ne možna movčaty pro seksual’ne nasyl’stvo rosijan nad vijs’kovopolonenymy čolovikamy?, in: Hromads’ke radio, 19.11.2022, https://www.hromadske.radio/podcasts/freeourfamily/rosiiany-chyniat-seksual-ne-nasyl-stvo-shchodo-viys-kovopolonenykh-cholovikiv-chomu-pro-tse-ne-mozhna-movchaty (20.11.2022); A Weapon of War? Some Reflections on Sexual Violence during the Russian War in Ukraine — Marta Havryshko in Conversation with Regina Mühlhäuser, 08.05.2022, https://www.newfascismsyllabus.com/opinions/ukrainian-dispatches/a-weapon-of-war-some-observations-on-sexual-violence-during-the-russian-war-in-ukraine/ (20.11.2022).

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